Was will und kann Globales Lernen?
Globales Lernen ist die pädagogische Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung, die besonders in den letzten Jahrzehnten neue Dimensionen weltwirtschaftlicher Zusammenhänge hervorgebracht hat und unser Leben bis in den Alltag hinein tangiert.
Regional verflochten sind die Wertschöpfungsketten z.B. in den Fertigungsprozessen unserer Konsumwaren – von der Planung über die Produktion bis zu Werbung und Vertrieb, bzw. bis zur Entsorgung. Aufgesplittert in eine Vielfalt von Schritten und Akteuren geht die Reise um die ganze Welt. Unsere Handlungen haben Konsequenzen bis in weit entfernte Teile dieser Erde (und umgekehrt), wenn wir beispielsweise über die Konsequenzen des Fleischkonsums für die Abholzung von Regenwäldern (für Viehfarmen, zur Produktion von Futtermittel) und damit auf das Weltklima, die Auswirkungen von profitablen Altkleidersammlungen für die Textilindustrie in afrikanischen Ländern oder die Zerstörung von lokalen Marktstrukturen durch EU-Dumpingpreise in den Abnehmerländern von Überschussware nachdenken.
Sachlich komplex und undurchschaubar, ja z.T. unvorstellbar, sind uns solche globalen Abläufe und Zusammenhänge oder z.B. auch die Tatsache, dass wirtschaftliches Wachstum heute immer weniger menschliche Arbeitskraft braucht und Finanztransaktionen mehr Gewinn abwerfen können als Produktion und Handel.
Zeitlich immer schnellere Veränderungsdynamiken beeinflussen unser Leben. Gerade Gelerntes wird schnell wieder hinfällig oder überholt. Ausbildungsinhalte veralten immer rascher, ständige Fort- und Weiterbildung ist erforderlich. Eine Fülle von Informationen ist verfügbar aus dem und auch bis in den letzten Winkel der Welt. Aber welch neue Herausforderungen an Datenverarbeitung und Orientierung sind damit entstanden!
Sozial immer näher rückt Unbekanntes. Es gibt kaum noch soziale (Intim-) Räume, die von “Fremdem” unberührt sind. Gewollt oder ungewollt, aber in der Regel wenig darauf vorbereitet, haben sich die Menschen individuell mit Neuem und mit biographischen Brüchen zurecht zu finden. Sie sind nicht mehr eingebettet in eine Gemeinschaft von Menschen mit ähnlichen sozialen Erfahrungen. Die geforderte größere Mobilität der Arbeitskräfte angesichts der um sich greifenden Arbeitslosigkeit impliziert hohe soziale Kosten für das Individuum und sein Umfeld. Die Pluralisierung des gesellschaftlichen Lebens erschwert Gemeinschaftserfahrungen, erhöht das Konfliktpotential und den Kommunikationsaufwand erheblich, ermöglicht aber auch eine Vielfalt der individuellen Gestaltungsmöglichkeiten.
Durch solche “Entgrenzung von Handlungsräumen” und “Verdichtung von sozialen Interdependenzen” (Seitz) kommt Globalisierung also nicht nur als Schlagwort in unser aller Leben, sondern kann als Chance und als Risiko wahrgenommen werden von den Individuen, der Zivilgesellschaft, den Nationalstaaten, der Weltwirtschaft und supranationalen Verbänden. Globale Gefährdungen, wie Umwelt- und Bevölkerungsprobleme, die Kluft zwischen Arm und Reich, die Unterdrückung von Frauen, Kindern und indigenen Kulturen und die Entkoppelung ganzer Regionen von den weltweiten Handelsbeziehungen äußern sich in der Ausweitung von Naturkatastrophen, zunehmendem Klimawandel, Konflikten, kriegerischen Auseinandersetzungen und Terrorismus sowie in der Verbreitung von Feindbildern, Spaltung der Gesellschaft und politischen wie religiösen Fundamentalismen.
Das Überleben der Menschheit schlechthin steht auf dem Spiel. Spätestens seit der UN-Konferenz zu “Umwelt und Entwicklung” in Rio de Janeiro 1992 (und den Folgekonferenzen) wird weltweit über die “nachhaltigen Entwicklungsziele” (SDG), ein weltweites Aktionsprogramm für das 21. Jahrhundert und seine Umsetzung debattiert. Es geht darum, die Begriffe Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit in regionalen und internationalen Zusammenhängen mit Leben zu erfüllen.
Bei solcher Umgestaltung der eigenen Gesellschaft und der internationalen Beziehungen kommt der Bildung eine bedeutende Rolle zu. Alternative Denk- und Lernformen müssen entwickelt, Kommunikations-, Entscheidungs- und Gestaltungsräume ausgebaut werden. Schule und Unterricht sind also durch globales Lernen herausgefordert, Gemeinschaftserfahrungen zu schaffen, die Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und Vernetzung zu nutzen sowie Selbst-Orientierung und Werteklärung einzuüben. Dabei stellen sich als besondere Schwierigkeiten das Umgehen mit Komplexität und mit Ambivalenzen heraus. Es gibt keine eindeutigen Antworten mehr nach dem Schema “Gut” und “Böse”, “richtig” und “falsch”; es gibt keine monokausalen Begründungen. Der Perspektivenwechsel, d.h. die Wahrnehmung mit den Augen von anderen und dadurch Empathie sowie die Relativierung und Erweiterung des eigenen Horizonts, ist eine notwendige Grundvoraussetzung einer Bildung für nachhaltige Entwicklung.
Es geht also nicht in erster Linie um neue und zusätzliche Themen und Bildungsinhalte. Globales Lernen…
- nimmt die Chancen und Risiken der Globalisierung wahr.
- zielt auf eine nachhaltige und zukunftsfähige Entwicklung in der Welt-Gesellschaft im Sinne einer “Globalisierung der Solidarität”.
- vermittelt Informationen über die Vernetzung von wirtschaftlichen, ökologischen, politischen und sozialen Faktoren auf lokaler und globaler Ebene.
- stärkt die Entscheidungsfähigkeit und Bereitschaft zur Beteiligung an gesellschaftspolitischen Prozessen.
- unterstützt die Identitätssuche junger Menschen und lässt das eigene Leben als Teilhabe am Weltgeschehen sichtbar werden.
- ermöglicht Perspektivwechsel, um andere Denkweisen und Lebenswelten erfahrbar zu machen.
- fördert die Fähigkeit zu gewaltfreier Auseinandersetzung sowie zum Eintreten für soziale Gerechtigkeit und Schutz der Umwelt.g
Die Kompetenz eines verantwortungsvollen Handelns in der Welt-Gesellschaft entsteht aus einer räumlich-globalen, sozial-multiperspektivischen und zeitlich-antizipatorischen Dimension des Lernens und Lehrens, die alle Beteiligten in ein neues Beziehungsgefüge bringt. Globales Lernen versteht sich also als ein interaktiver, partizipativer und handlungsorientierter gemeinsam gestalteter Lernprozess.
Aus dem Gesagten wird deutlich, dass Schulpartnerschaften mit Schulen in anderen Teilen dieser Welt ein besonderes Potential für Globales Lernen bergen. Interkulturelle Lernprojekte und Begegnungen fordern dazu heraus, sich über “das Eigene” klar zu werden und dies ausdrücken zu müssen sowie durch die Sichtweise von anderen einen Blickwechsel vorzunehmen. Gleichzeitig können Gemeinsamkeiten entdeckt werden quer zu den Grenzen von Nation, Geschichte und Kultur. Besonders Nord-Süd-Partnerschaften lassen die Brüche der Weltgesellschaft deutlich werden, da Vertreter*innen aus dem “reichen Norden” mit denen des “armen Südens” und deren Bildern voneinander konfrontiert werden. Wahrnehmungsverzerrungen, Idealisierungen, eigene Vorurteile und Dominanzdenken können offenbar werden und fördern eine entsprechende Auseinandersetzung mit diesen Themen. Sie führen aber allerdings auch zu Irritationen, die eine behutsame pädagogische Begleitung nötig machen. Das Potential für selbstreflexive Prozesse ist nicht “automatisch” gegeben, sondern muss erarbeitet werden, um die Chancen des interkulturellen globalen Lernens zu erschließen. Geschieht dies, so können durch solche Partnerschaften Lernprozesse angestoßen werden, die weit über den Moment der Begegnung hinaus bei den Beteiligten und in der Schule Elemente einer solidarischen nachhaltigen Entwicklung lebendig werden lassen.